Was glauben wir eigentlich?
Immer wieder fallen mir Studien und Presseartikel auf, die vom Kirchenmitgliederschwund schreiben. Weniger Mitglieder werden mit weniger Interesse am christlichen Glauben gleichgesetzt. Das leuchtet grundsätzlich ein. Das will auch eine Studie belegen, die sich auf Amerika, das christliche Land schlechthin, bezieht. Die Welt.de berichtet im Artikel «Die USA fallen vom christlichen Glauben ab» (Welt.de 15.05.2015), dass sich immer weniger Amerikaner als religiös bezeichnen und die Anzahl der Christen in den USA schwinde. Christlicher Glaube anders einordnen hier im Fokus.
Studien sind in der Regel Hochrechnungen, da man bekanntlich nicht die ganze Bevölkerung befragen kann. Als Grundlage dient zum Beispiel in der Schweiz die eidg. Volkszählung, wo Menschen nach bestimmten Kriterien erfasst werden. Aufgrund dieser Kriterien reicht es, lediglich einen kleinen Anteil zu befragen und die daraus erfassten Werte dann hochzurechnen. Durch diese mathematische Berechnung sei es möglich, die Meinung einer ganzen Volksgruppe zu erfassen. Soweit so gut.
Christlicher Glaube: Was glauben wir genau? Was ist Wahrheit?
Anonyme Christen
Ist ein Kirchenaustritt gleich einer Absage von christlichen Werten? Auf der Suche nach dem Begriff «anonyme Christen» bin ich bei einem, allerdings schon einige Jahre alten Blog vom heutigen Berner EVP Grossrat und Generalsekretär der Schweizerisch Evangelischen Allianz, Marc Jost, gelandet.
Rückzug aus der Kirche sei kein Rückzug vom Glauben, sondern von den (Mit)Gläubigen.
So sein Fazit aus Gesprächen mit betroffenen Christen. Die Gründe seien vielseitig, oft Beziehungskonflikte oder Überlastung. Marc Jost stellt diesen Rückzug gleich mit dem Rückzug in die Einsamkeit. Er spricht vom verheerenden Schritt in die Anonymität. Dies sei keine Arznei gegen die Zitat: «konstatierte Krankheit». Die Einsamkeit und die Selbstbezogenheit würden das Übel bloss vergrössern.
Das definierte Verständnis, wie Glaube zu leben ist
Die Meinung, christliche Gemeinschaft sei nur in der Kirche möglich, ist mir schon oft begegnet. Was mir an diesem Standpunkt auffällt, ist, dass er durch vorgefasste Meinungen geprägt wird. Warum ist ein Rückzug aus der Kirche ein Schritt in die Anonymität? Der Mensch ist und bleibt ein soziales Wesen, das sich seine Kontakte bewusst sucht.
Gibt es ausserhalb der Kirche keine Menschen, mit denen man über Lebens- und Glaubensfragen diskutieren kann?
Ich meine, es gibt sie sehr wohl. Ein Freund von mir pflegt zu sagen: «Man stimmt mit den Füssen ab.» Will heissen: Unser Handeln sagt aus, was wir wirklich möchten. Dass jemand einen Rückzug macht, hat immer Gründe.
Diese nur bei ihm zu suchen und ihn oder sie zu verurteilen, ist fehl am Platz.
Die andere oder ergänzende Möglichkeit wäre, sich als Kirche zu hinterfragen und Menschen ohne den Anspruch auf (immer mehr) Mitarbeit besser einzubinden. Einfaches und unkompliziertes Zusammenleben ermöglichen.
Die Kirche, eine innige Familie
Man kann Kirche nicht einfach als eine Gruppe von Menschen verstehen. Wer sich gemeinsam für eine Überzeugung einsetzt, erlebt Gemeinschaft intensiver. Teilt mehr. Und ist mitunter durch diese selbstverständliche Offenheit verletzlicher. Da schmerzt jeder Abgang. Wobei man die Art und Weise des Abgangs berücksichtigen muss.
Abgänge gehören zum Leben. Konflikte sollten wenn möglich geklärt werden.
Unter der Voraussetzung, dass beide Meinungen der Konfliktparteien respektiert werden (nicht recht haben wollen). Wo intensiv geteilt wird, werden die Erwartungen grösser. «Man» tut dies als Christ, man tut das. Als Selbstverständlichkeit angenommene Meinungen und Erwartungen können einen riesigen Druck auslösen.
Statt Gemeinschaft, die konform denken muss, lieber gelebte Vielfalt – unterwegs zum gleichen Ziel. Statt ein verlangtes «Muss» ein willkommenes «Sein Dürfen».
Eine der bekanntesten Geschichten in der Bibel ist die des verlorenen Sohnes. Ein Mann hat zwei Söhne. Der jüngere lässt sich sein Erbe vorauszahlen, verlässt das Haus und verbraucht sein Geld mit einem unverhältnismässigen Lebensstil. Der ältere Sohn bleibt zu Hause, wo er seit eh‘ und je war. Treu. Als der jüngere verwahrlost zurückkommt, gibt der Vater ein Freudenfest. Eine Handlung, die dem älteren missfällt. Doch der Vater sagt ihm: «Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und gutes Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden.» (Lukas, Kapitel 15, 11 – 32).
Christlicher Glaube vielfältig gelebt – anders denken, sehen und erleben.
Die andere Haltung
Die Alternative anstelle von Menschen zu verurteilen, wäre zulassen, loslassen und Verständnis zeigen.
Keine einfache Angelegenheit. Ja. Vielleicht hilft es, statt kurzfristig, langfristig zu denken. Loslassen fördert die Auszeit. Das beeinflussen Wollen, die Flucht. Ersteres lässt ein Wiedersehen zu. Letzteres steigert die Distanz.
In der Berufswelt wird es zum Teil gezielt gemacht: Auf Distanz gehen. Es verhindert Betriebsblindheit. Deckt Festgefahrenes auf und hilft bei einer Neuorientierung.
In dem Sinn sind «anonyme Christen» als Christen zu bezeichnen, die vielleicht Dinge erkennen, die der Kirche wieder neues Leben geben könnten. Das geschieht allerdings nur, wenn sie nicht verurteilt werden und Kirchenverantwortliche offen für deren Feedbacks werden …
© Christliche-Werte.ch – überarbeitet 16.6.2021 (ar)